Mit dem Umsatz beginnt alles: Ohne Umsatz kein Gewinn. Nur wer Umsatz macht, zeigt, dass er auch Kunden hat, welche die Produkte oder Dienstleistungen des Unternehmens kaufen. In der Gewinn- und Verlustrechnung wird der Umsatz ganz oben ausgewiesen – auch Topline genannt. Die wenigsten Investoren machen sich darüber Gedanken. Die meisten interessiert nur, “was unter dem Strich” herauskommt. Schliesslich sind Umsätze ja die vom Kunden bezahlten Erlöse und insofern eine klare Sache. Aber vielleicht ist die Sache doch nicht so ganz klar? Denn – je nach Defintion und Zeitpunkt der Umsatzrealisierung – können sich auch für den Gewinn massive Auswirkungen ergeben.
Was ist Umsatz genau? Und wann fällt er an? Umsatz ist auch definiert als “Erlöse aus Verträgen mit Kunden“. Ein einfaches Beispiel ist der Kunde, der im Supermarkt einen Liter Milch erwirbt. Der Kunde bezahlt an der Kasse und dieses Bezahlen für den Erwerb der Ware gilt als Umsatz. Im Moment der Geldübergabe gilt der Umsatz als vereinnahmt und kann realisiert werden. Doch häufig ist der Fall komplizierter. Insbesondere wenn es sich um längere Projekte oder um Produktbündel handelt, die aus verschiedenen Produkten und Leistungen bestehen. Ein Beispiel ist der Handyvertrag: Man erhält ein Handy zu vergünstigten Konditionen, unterschreibt dafür aber einen 12- oder 24-Monats-Vertrag. Wann fällt der Umsatz genau an? Am Anfang der Vertragslaufzeit oder über die Laufzeit verteilt? Welche Rolle spielt der Zahlungszeitpunkt des Kunden? Dazu weiter unten noch mehr.
Das Regelwerk IFRS, welches für die meisten börsennotierten Unternehmen in Europa der Standard für die Rechnungslegung ist, definiert unter Abschnitt IFRS 15 die Realisierung von Umsatz folgendermassen:
1. Kundenvertrag erfassen: Dies klingt einfach, ist aber oft nicht trivial. Manchmal liegt kein schriftlicher Vertrag vor, manchmal liegen aber auch mehrere Verträge vor, die zusammengefasst werden müssen.
2. Leistungsverpflichtungen des Vertrages bestimmen: Jede einzelne Ware oder Dienstleistung, die einem Kunden zugesagt wurde, gilt als Leistungsverpfllichtung.
3. Transaktionspreis ermitteln: Wie oben erwähnt, kann es kompliziert werden, wenn ein Vertrag z.B. Rabatte, Rückvergütungen, Prämien etc. für den Kunden enthält.
4. Transaktionspreis auf die Leistungsverpflichtungen aufteilen:Jeder einzelnen Leistung muss ein Teil des Transaktionspreises zugeordnet werden. Dies kann in einzelnen Fällen zu einem hohen Aufwand und komplizierten Abschätzungen führen.
5. Erlös bei Erfüllung der Leistungsverpflichtung erfassen: Der Umsatz wird erfasst, wenn die Verfügungsmacht über die Waren oder Dienstleistungen an den Kunden übergeht.
Dieses hier skizzierte Modell ist seit 2017 in Kraft und seit 2018 verpflichtend. Der amerikanische Standard US-GAAP funktioniert analog. Vor der Neuregelung des IFRS 15 galten andere Vorschriften, denn in der Vergangenheit wurde Umsatz häufig nach der “PoC-Methode” oder auch Percentage-of-Completion-Methode erfasst. Beispielsweise bei einem Fertigungsprojekt wurde der Umsatz entsprechend des Fertigungsfortschritts in der GuV realisiert. Dies ist heute nicht mehr so einfach.
Im folgenden möchte ich zwei Beispiele skizzieren, die aufzeigen, wie unterschiedlich Umsätze in enem Unternehmen realisiert werden:
Zum einen das Beispiel der Firma TGS, welche für Ölförderunternehmen geografische und seismische Daten erhebt und zur Verfügung stellt. Dies geschieht in oft langwieirigen Projekten, wo TGS von Schiffen aus die Geodaten mittel komplexer Methoden erfasst. Die Firma schreibt in ihrem letzten Quartalsbericht (Q2 2019):
For internal reporting purposes TGS is using segment reporting with net revenues for projects in progress recognized based on Percentage of Completion (POC), as opposed to the IFRS accounts, where revenues are not recognized until the relevant project is completed. It is the Board’s opinion that the POC methodology provides a better picture of the inherent risk and value creation of the business. The discussion and analysis in this section are based on segment reporting.
Diese unterschiedliche Betrachtungsweise führt zu sehr materiellen Differenzen bei der Umsatz- und Gewinnbetrachtung. So lagen die Umsätze nach IFRS in Q2 2019 bei rund 105 mUSD, während sie nach der PoC-Methode bei 166 mUSD lagen. Der operative Gewinn lag entsprechend IFRS bei 4.7 mUSD und nach der PoC-Methode bei 23 mUSD – mehr als viermal so viel Gewinn. Der Investor reibt sich erstaunt die Augen!
Anders sieht es z.B. bei Freenet aus. Hier vermerkt der Geschäftsbericht 2018:
Bei vielen unserer Postpaid Endkunden erzielt der freenet Konzern gegenüber dem Endkunden zum einen Serviceumsätze aus Mobilfunk- oder Digital-Lifestyle-Diensten und verkauft dem Kunden zum anderen die Hardware, damit die entsprechenden Dienste durch den Kunden genutzt werden können. In der Regel finden bei der Bepreisung dieser beiden Bestandteile, also Tarif und Hardware, Quersubventionierungen statt. Unter dem IFRS 15 kommt es dann hinsichtlich der sofort bei Verkauf anfallenden Hardwareumsätze zu einem höheren Umsatzausweis, während bezogen auf die monatlichen Tarifumsätze ein entspre-chend geringerer Umsatz als bisher erfasst wird. für jeden Kundenvertrag wird über dessen gesamte Vertragslaufzeit grundsätlich insgesamt ein Umsatz in gleicher Höhe wie bisher ausgewiesen. Es ändern sich nur die Realisationszeitpunkte: Aus der Anwendung des neuen Standards ergibt sich für unser Postpaid-Geschäft aus dem beschriebenen Einzeleffekt tendenziell eine deutlich frühere Umsatz- und EBITDA-Realisation als bisher.
Anmerken sollte man hier vielleicht, dass bei solchen Verträgen die Kunden in der Regel eine gleichbleibende monatliche Gebühr über die Vertragslaufzeit bezahlen. Dies bedeutet, dass der Casheingang teilweise erst nach der Buchung des Umsatzes erfolgt. Im Gegensatz zu TGS erfolgt also die Realisierung des Umsatzes durchschnittlich früher als der Zahlungseingang.
Die Komplexität des Verfahrens nach IFRS 15 führt also zu sehr unterschiedlichen Szenarien und ist für den Anleger oder Analysten nur schwer duchschaubar. Böse Zungen behaupten, dass die Transparenz durch die Neuregelung nicht gerade höher geworden ist, aber der Aufwand des Verfahrens dafür umso grösser… Wie dem auch sei, der Investor muss jedenfalls verstehen, wie ein Unternehmen seinen Umsatz realisiert bzw. berechnet und zu welchen Effekten die frühere odere spätere Umsatzrealisierung führen kann. Es muss jedem Anleger klar sein, dass Umsätze nicht gleich Einnahmen sind. Daher ist es notwendig, neben der Gewinn- und Verlustrechnung, auch den Cashflow unter die Lupe zu nehmen. Bekanntlich ist auch im Unternehmen nur Bares wirklich Wahres. Die Analyse der Zahlungsströme bringt hier Licht ins Dunkel. Nur der genaue Blick in die Anmerkungen zur Bilanz schafft hier die nötige Klarheit. In der Regel geben die Unternehmen im Kleingedruckten hinter den Bilanzen preis, wie sie die Umsatzrealsierung vornehmen. In der Bilanz des für das Finanzjahr 2018 findet sich möglicherweise auch noch eine ausführliche Erklärung zur Umstellung des Verfahrens auf IFRS 15 und deren Auswirkungen auf das Umsatzhöhe und Ergebnis. Insbesondere bei Unternehmen, die Produktbündel, länger laufende Kundenverträge oder komplizierte und langdauernde Projekte für die Kunden ausführen ist Wachsamkeit angesagt.
Was sind die Merkpunkte für die Analyse des Umsaztes?
Verstehe wie der Umsatz des Unternehmens realisiert wird: Ggf. gibt es mehrere unterschiedliche Umsatztypen, die unterschiedlich behandelt werden, wie z.B. langfristige Fertigungsverträge, Einzelverkäufe und Dienstleistungsverträge.
Analysiere, ob andere Methoden der Umsatzberechnung zu materiell anderen Ergebnisse in der GuV führen würden (z.B. PoC-Methode).
Vergleiche Umsätze, EBITDA und operativen Cashflow. Was lässt sich hier über die Unterschiede zwischen eingehendem Cash und realisiertem Umsatz schlussfolgern?
Verstehe, ob die Art der Umsatzrealisierung tendenziell in einer Periode zu einem überhöhten oder eher einem untertriebenen Gewinnausweis führt.
Welche Konsequenzen sind daraus für die faire Bewertung des Unternehmens zu ziehen?
Comments