Der Konzernabschluss von Volkswagen ist nicht gerade ein unterkomplexes Dokument und leicht übersieht man darin die eine oder andere Position. Doch als ich vor kurzem den Jahresabschluss für 2019 vor mir hatte, stach mir doch eine Position allein wegen ihrer schieren Grösse ins Auge: Im Gesamtergebnis war ein Verlust von über 8 Mrd. € aus der Neuberwertung von Pensionsplänen (vor Steuer) ersichtlich. Dieser Verlust belastete das Eigenkapital, aber nicht die Gewinn- und Verlustrechnung.
Oft führt ja die Gesamtergebnisrechnung ein gewisses Stiefmütterchendasein und der Investor schenkt ihr wenig Beachtung, da sie nicht in die eigentliche GuV einfliesst. Trotzdem sind 8 Milliarden ein grosses Wort, selbst für den Volkswagenkonzern. Mir war nicht klar, ob und wie eine solche Belastung für den Investor relevant sein sollte. Welche Belastungen gehen für das Geschäft des Unternehmens real von den Pensionen aus? Ist das alles nur eine rechnerische Grösse, die keinerlei Rückwirkungen auf das operative Geschäft hat? Gibt es auch Rückwirkungen auf die GuV oder den Cash-Flow? So begann ich also etwas zu graben, nicht zuletzt weil auch andere Konzerne (z. B. Lufthansa, Siemens oder Daimler) überaus massive Pensionsrückstellungen ausweisen. Die Süddeutsche Zeitung bemerkte im Jahr 2019, dass die DAX-Konzerne unter einer Pensionslast von über 400 Mrd. € stöhnen, die nur zu 250 Mrd. € gegenfinanziert ist. Eine Lücke von rund 150 Mrd. € tut sich auf.
Doch was sind Pensionsrückstellungen überhaupt? Die meisten Beschäftigten erhalten ja Renten oder Pensionen, für die der Arbeitgeber regelmässig Beiträge abführt, aber in der Regel keine Rückstelungen bildet. Dabei handelt es sich, um die so genannten “Defined Contribution Obligations”, d. h. der Arbeitgeber zahlt einen definierten Beitrag, trägt aber keinerlei Risiko für die Höhe der Pension oder die Dauer der Zahlung. Dieses Risko liegt dann beim Arbeitnehmer oder bei staatlichen bzw. privaten Pensionsträgern. Im Gegensatz dazu steht die “Defined Benefit Obligation”. Dies heisst, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer ein vertragliches Versprechen gibt, wonach dem Arbeitnehmer im Versorgungsfall eine Pension in bestimmter Höhe bezahlt wird. Ein Beispiel könnte hier sein, dass man etwa im Arbeitsvertrag vereinbart, dass pro Dienstjahr eine Pension in Höhe von 0.5% des Bruttogehaltes ab dem 65. Lebensjahr bis zum Lebensende ausbezahlt wird. Es ist ersichtlich, dass in diesem Falle der Arbeitgeber, ein erhebliches Risiko trägt. Denn es ist unsicher, wie viele Jahre der Pensionär seine Pension beziehen wird, wie hoch diese ausfällt (was abhängig von der Lohnentwicklung und der Inflation ist) und mit welchem Faktor der Arbeitgeber seine Verpflichtung in der Bilanz abzuzinsen hat. Insbesondere Vorstandmitglieder und andere leitende Angestellte erhielten und erhalten solche Pensionsversprechen in ihren Vergütungspaketen. Ein Schelm wer sich dabei die Frage stellt, warum viele Konzerne in der Vergangenheit so grosszügig diese Versprechen verteilt haben…
Das Unternehmen muss also eine Rückstellung bilden, um die zukünftigen Verpflichtungen aus Pensionszahlungen bilanziell abzubilden. Die Höhe der Rückstellung – geregelt in IAS 19 für die meisten börsennotierten Konzerne in Europa – ist davon abhängig, welche Annahmen über die zukünftigen Lohn-, Inflations- und Sterbeentwicklungen getroffen werden. Dafür kann auf demografische Daten und versicherungsmathematische Annahmen zurückgegriffen werden. Gleichzeitig ist die Pensionsverpflichtung ja eine Zahlungsverpflichtung, die oftmals weit weg in der Zukunft liegt. Daher ist es auch notwendig die erwarteten Zahlungsströme auf einen heutigen Barwert abzuzinsen, welcher in die Bilanz einfliesst. Je höher der Abzinsungssatz ist, desto geringer der Barwert und umgekehrt. Häufig wurden Pensionsversprechungen bereits vor vielen Jahren getätigt als die Zinssätze typischerweise noch im Bereich von 5% bis 8% lagen. Die anhaltende Niedrigzinsphase führte also über die vergangenen Jahre immer wieder dazu, dass der rechnerische Zins gesenkt werden musste und damit der Barwert der Rückstellungen in vielen Bilanzen explodierte. Diese versicherungsmathematischen Veränderungen müssen auch dem Eigenkapital belastet werden, fallen jedoch nicht in der GuV ergebniswirksam an.
Die 8 Milliarden €, die im Gesamtergebnis des Volkswagenkonzerns als Belastung ausgewiesen werden, sind also nichts anderes als eine Folge der immer weiter sinkenden Marktzinsen. Und hier lohnt es sich, den Anhang zur Bilanz ganz genau anzuschauen: Auf Seite 266 erfährt der neugierige Leser, dass derer Abzinsungssatz für Deutschland von 1.97% auf 1.09% gesenkt wurde. Im Ausland fiel der Satz von 3.16% auf 2.3%. Der Zinssatz wird auf Basis erstrangiger, festverzinslicher Anleihen mit langer Laufzeit bestimmt. Wer die Zinspolitik der Zentralbanken verfolgt, weiss, dass wir noch längst nicht am Ende der Zinssenkungsspirale angekommen sind. Auch im Jahr 2020 geht es munter weiter abwärts und entsprechende Anpassungen sind daher auch für das laufende Jahr zu erwarten.
Einem Unternehmen ist es auch möglich ein so genanntes Planvermögen oder Treunhandfonds aufzubauen, welcher zukünftig für die Befriedigung der Pensionsverpflichtungen einspringt. Ein unabhängiger Dritter verwaltet diesen Treuhandfonds, der aber vom Unternehmen mit Einzahlungen aufgebaut werden muss. Der Fair Value des Planvermögens wird in der Bilanz vom Barwert der Pensionsrückstellungen abgezogen und mindert so die zukünftigen Verpflichtungen des Unternehmens.
All diese Zahlenspielereien könnte der Investor als unbedeutend abtun, da es sich ja um Verpflichtungen handelt, die in ferner Zukunft liegen und letztendlich für das Unternehmen auf absehbare Zeit keine grosse Rolle spielen. Doch ganz so einfach ist es leider nicht. Da solche Pensionsverpflichtungen schon vor einigen Jahren, teilweise vor langen Jahren, eingegangen wurden, kommt der Tag der Wahrheit näher. Der Volkswagenkonzern weist deshalb auch im Anhang aus, wann die Zahlungen fällig werden (S. 270): So werden innerhalb des nächsten Jahres 1.2 Mrd. € fällig, innerhalb der nächsten 2-5 Jahre müssen 5.1 Mrd. ausbezahlt werden und danach beläuft sich die Cashsumme auf über 47 Mrd. €. Aufgrund der fallenden Zinsen ist dieser Wert allein 2019 um knapp 10 Mrd. € angewachsen. Sofern kein Treuhandfonds die Verpflichtungen abdeckt, erfolgt die Auszahlung direkt aus dem Cashflow des Unternehmens.
Doch nicht nur der Cashflow unterliegt einer Belastung, auch die GuV muss Federn lassen. Obwohl nicht auf den ersten Blick ersichtlich, haben die Pensionsverpflichtungen auch direkt ergebniswirksame Komponenten. Ein Blick in den Anhang (S. 271) lohnt auch hier: In 2019 wurden bei Volkswagen insgesamt 2.2 Mrd. € direkt als Aufwand (saldiert mit Erträgen) in die GuV gebucht. Der laufende Dienstzeitaufwand mit knapp 1.6 Mrd. € und die Nettozinsen auf die Nettoschuld aus leistungsorientierten Versorgungsplänen mit 662 Mio. € sind dabei die wichtigsten Positionen. Der Dienstzeitaufwand ist der Betrag, der durch die jährlichen Arbeitsleistungen der Arbeitnehmer an Pensionzusagen hinzukommt und rückgestellt werden muss. Die Pensionsrückstellungen sind zudem verzinst, da ja der Arbeitnehmer dem Unternehmen quasi einen Kredit über lange Zeit gewährt. Der Dienstzeitaufwand findet sich also in den Personalkosten wieder und der Zinsen für die Pensionsschulden fallen in den Finanzaufwand. Wie man bei VW sieht, sind auch diese Beträge nicht unerheblich.
Welches Fazit kann der Volkswagenaktionär ziehen? Meine Einschätzung ist, dass heute (noch) niemand schlaflose Nächte wegen der Milliarden an Pensionsverpflichtungen bekommen muss. Doch die anhaltende Niedrig- und Nullzinsphase wird dieses Problem zukünftig noch weiter wachsen lassen. Die Deckungslücke zwischen Verpflichtung und angespartem Pensionsguthaben wird weiter aufreissen. Über die Jahre wird dies einen erheblichen Einfluss auf den Cashflow des Unternehmens haben. Volkswagen wird z. B. die Investitionen entsprechend reduzieren müssen. Eine langfristig orientierter Investor muss diesen Faktor in die Unternehmensbewertung einbeziehen. Das Gewicht der Pensionsrückstellungen in dieser massiven Höhe ist keinesfalls nur eine kalkulatorische Grösse, sondern ein realer Hemmschuh für die Konzernentwicklung.
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