Im Frühjahr 2018 wälzte ich mal wieder den aktuellen Jahresbericht der Vapiano AG. Ein vielversprechendes Geschäftsmodell, das schnelles Wachstum versprach; eine Kette mit gehobenem Fastfood italienischer Art, die einen erfolgreichen IPO hingelegt hatte. Die Expansion der Filialen erfolgte schnell und international. Profitabilität war zwar noch nicht gegeben, aber immerhin schon auf der Ebene des EBITDA erreicht. Die Bewertung halbwegs moderat. Was sollte da noch schiefgehen? Ein kleiner Schönheitsfehler waren nur die wiederholten “Sonderaufwendungen” z.B. für den IPO, Restauranteröffnungen und -umbauten, sowie Restrukturierungen. Regelmässig wurde ein “bereinigtes” Ergebnis ausgewiesen, welches signifikant vom unbereinigten Ergebnis nach IFRS abwich. Sollte das eine rote Ampel sein, die man besser nicht überfährt? Ich zerbrach mir den Kopf, wie diese Abweichungen in den Bilanzen von Vapiano zu bewerten wäre und was sie für eine Investitionsentscheidung bedeuteten. Die meisten werden wissen, dass die Vapiano-Story für die Aktionäre
kein gutes Ende fand. Glücklicherweise konnte ich persönlich deutlich vor der Insolvenz aussteigen, nicht ohne ein moderates Lehrgeld zu bezahlen.
Doch Vapiano ist kein Einzelfall. Die Bilanzen vieler Unternehmen sind nur auf den ersten Blick eindeutig und klar. Mit etwas Spürsinn und Detektivarbeit findet man häufig Ungereimtheiten und Hinweise auf Differenzen zwischen Realität und Bericht. Ich begann mich intensiv mit diesen Fragen auseinanderzusetzen und bin auf ein etwas angestaubtes Buch aus den achtziger Jahren gestossen, welches doch auch heute immer noch ein Massstab für dieses Thema ist: “Quality of Earnings. The Investor’s Guide to How Much Money a Company is Really Making” von Thornton L. O’glove.
O’glove, seinerzeit Herausgeber des Newsletters “Quality of Earnings Report”, hat mit seinem Buch ein Standardwerk der Bilanzanalyse für Aktieninvestoren geschaffen. Mehr als 30 Jahre nach seinem Erscheinen ist das Buch immer noch brandaktuell, obwohl sich natürlich in der Zwischenzeit viele Rechnungsführungsstandards stark verändert haben. Doch eines hat sich nicht verändert: Das Bedürfnis von vielen Firmenlenkern, ihre Bilanzen in einem rosigeren Licht erscheinen zu lassen als es die realen Zahlen erlauben würden. Man muss nur an die krassen Fälle der Bilanzfälschung wie jüngst Wirecard oder auch Enron denken, um zu erkennen, wie weit einzelne Manager gehen können. Doch O’glove beschäftigt sich nicht mit gefälschten Bilanzen. Es geht ihm darum die Tricks aufzuzeigen, die CEOs oder CFOs anwenden, um ihre GuV auf ganz legalem Weg in ein besseres Licht zu rücken.
Das Buch ist dabei in verschiedene thematische Abschnitte gegliedert und arbeitet sehr stark mit konkreten und realen Beispielen aus der damaligen Zeit (achtziger Jahre). Es ist so ungemein anschaulich und praktisch geschrieben, dass auch der Buchhaltungslaie ohne weiteres seine Lehren daraus ziehen kann. Die Beispiele sind – auch aus Sicht von 30 Jahren später – nicht nur lehrreich sondern unterhaltsam. So geht es um Firmen, die Floppydiscs produzieren oder um Apple Inc. in seinen frühen Jahren; der historisch interessierte Investor findet faszinierendes Material. Ich greife im folgenden einige (aber längst nicht alle) zentralen Themen des Buchs und zeige die wesentlichen inhaltlichen Linien von O’glove.
Don’t Trust Your Analyst: O’glove zeigt die Interessenkonflikte der Analysten und ihre weit verbreitete Herdenmentalität (einzelne Ausnahmen gab es schon damals wie auch heute!). Sein Fazit: Obwohl Analysten hin und wieder wertvolle Informationen weitergeben und manchmal auch die Warnzeichen geschönter Bilanzen erkennen, bleibt der Königsweg für den Investor doch, sein eigener Analyst zu sein. Nur der eigenen Analyse kann man voll vertrauen.
Don’t Trust Your Auditor: Nicht erst seit Wirecard weiss man, dass die Rechnungsprüfer oft zu lax prüfen oder fragwürdige Punkte übersehen. Die Firmen zahlen die Rechnung für die Prüfer und kein Auditor wünscht daher ohne Not einen Konflikt mit dem CFO des Kunden.
Shareholder Letters: O’glove zeigt wie Finanzberichte mit wachsweichen Formulierungen und sprachlichen Tricks über unangenehme Finanzfakten hinweggehen. Auf der anderen Seite zeigt er aber auch Beispiele offener Kommunikation, die Probleme transparent benennt und die ergriffenen Massnahmen aufzeigt.
Nonoperating and/or Nonrecurring Income: In den Finanzberichten taucht oft der Begriff des “bereinigten Gewinns” auf. Gerne rechnen die Unternehmen bestimmten “einmaligen oder aussergewöhnlichen Aufwand” (seltener einmaligen oder aussergewöhnlichen Ertrag) aus der Bilanz heraus. Der bereinigte Gewinn steht dann in der Kommunikation im Vordergrund, während der IFRS-Gewinn ganz hinten im Bericht publiziert wird. Doch was ist ein aussergewöhnlicher Aufwand? Sind Restrukturierungskosten einmalig oder aussergewöhnlich, wenn alle paar Jahre eine neue Restrukturierungswelle das Unternehmen betrifft? Sind Abschreibungen auf akquirierte Unternehmen einmalig, wenn es ein Muster gibt, dass für Akquisitionen häufiger mal zu viel bezahlt wird? Es lohnt sich genau hinzuschauen und fatale Muster frühzeitig zu erkennen. Vapiano lässt grüssen.
Shareholder Reporting vs. Tax Reporting: Zwischen den Steuerbilanzen und den Bilanzen für die Aktionäre können Welten liegen. Oftmals versuchen Unternehmen einerseits ihre Steuerlasten zu minimieren, was den Steuergewinn möglichst gering ausfallen lässt. Andererseits wird versucht für die Aktionäre möglichst hohe Gewinne auszuweisen. Unmöglich? Keinesfalls! Denn über höhere Abschreibungen oder bestimmte Aufwandsanrechnungen kann der steuerliche Gewinn drastisch heruntergefahren werden, während dem Aktionär bspw. eine wesentlich geringere Abschreibung präsentiert werden. Welche Bilanzierungsmethode eher die Realität abbildet, muss der investigative Investor schon selbst herausfinden.
Two Key Ratios: Accounts Receivable and Inventories: Forderungen und Vorräte geben oft Hinweise zum wahren Zustand eines Unternehmens. Versucht ein Händler seine Vorräte trickreich bei den Kunden abzuladen – vielleicht über grosszügige Zahlungsbedingungen oder Preisnachlässe? Warum wachsen die Vorräte an? Was bedeutet es, wenn die Vorräte an Rohmaterialien, Halbfertigprodukten oder Endprodukten plötzlich im Verhältnis zum Umsatz anwachsen? Der interessierte Spurensucher kann daraus interessante Schlussfolgerungen ziehen.
Dividends: The Tender Trap: Unternehmen, die regelmässig und verlässlich ihre Dividenden erhöhen sind bei Investoren meist gerne gesehen. Doch O’glove weist darauf hin und belegt mit vielfältigen Beispielen, dass die Auszahlung eines wachsenden Dividendenstroms bei schwankenden Gewinnen ein Holzweg sein kann. Investoren sollten hier sehr genau analysieren.
The Importance of Understanding Accounting Changes: Oft haben Unternehmen Wahlmöglichkeiten, wie sie Rechnungslegungsvorschriften anzuwenden gedenken. Ein aktuelles Beispiel: Unternehmen, die nach IFRS bilanzieren, müssen Leasingverhältnisse seit 2019 als Vermögensgegenstand (Nutzungsrecht) und auf der Passivseite als Finanzschuld ausweisen. Die Konsequenz ist häufig eine sinkende Eigenkapitalquote (siehe meinen Beitrag zu IFRS 16 und dessen Implikationen). Unternehmen, die z. B. in der Schweiz nach Swiss GAAP FER bilanzieren, können dies vermeiden. Ist es Zufall, dass immer mehr börsennotierte Unternehmen in der Schweiz von IFRS auf Swiss GAAP wechseln? Der aufmerksame Investor sollte seine Rückschlüsse ziehen.
All diese und viele andere Themen werden in “Quality of Earnings” unterhaltsam und anschaulich präsentiert. Vielleicht überrascht es den einen oder anderen Leser, dass all diese Themen über 30 Jahre nach Veröffentlichung des Werks immer noch aktuell sind. Doch der menschliche Makel, die eigene Leistung geschönt darzustellen und zur Bilanzkosmetik zu greifen überdauert die Jahrzehnte und viele Rechnungslegungsreformen. Wahrscheinlich wird dieses Werk auch noch weit in der Zukunft seinen Nutzen unter Beweis stellen. Nur der aufmerksame, ja detektivische Investor kann langfristig erfolgreich sein. Genau hinzuschauen lohnt sich also im wörtlichen Sinn!
Um es in den Worten von Thornton L. O’glove zu sagen:
No one can tell you how to get rich or succeeed in investments. All someone can do is provide the tools for intelligent descisions. Such is the purpose of this book.
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