In einem längeren Beitrag auf Spiegel Online (“Der vermeintlich sichere Tipp“) kritisiert das Magazin heute “Vermögensverwalter, Bankberater und Profianleger” wegen falscher Interpretation des derzeit vermeintlich niedrigen (also günstigen) Kurs-Gewinn-Verhältnisses (KGV) von Aktien. Laut Spiegel werden viele Privatanleger von den Profis derzeit mit dem falschen Argument günstiger Einstandspreise bei Aktien zum Einstieg geködert. In Tat und Wahrheit seien Aktien aber überteuert – nur 1929 und zu Hochzeiten der New-Economy-Blase seien Aktien noch teurer gewesen.
Kernpunkt der Argumentation ist, dass zwar das KGV optisch momentan niedrig sei (circa 13 für deutsche Aktien), aber da es mit dem aussergewöhnlich hohen heutigen Gewinn-Niveau berechnet werde, sei dies eine Täuschung. Die Väter der Valuestrategie Prof. Ben Graham und David Dodd hätten schon vor langer Zeit empfohlen die durchschnittlichen Gewinne der letzten 10 Jahre zur Berechnung des KGV heranzuziehen – und nicht nur die Gewinne der vergangenen 12 Monate. Mit dieser Methode komme man dann auf ein wesentlich höheres KGV von 27 (allerdings für den S&P 500) – ein historisch arlarmierend hoher Wert. Alles in allem sieht das Spiegel-Aktienorakel dunkle Wolken und schwere Unwetter am Anlegerhimmel dräuen.
Es ist ja lobenswert, dass der Spiegel sich mit Graham und Dodd beschäftigt und die Anleger vor dem oftmals ungerechtfertigten Optimismus der Vermögensverwalter warnt. Leider hat die Argumentation aber ein paar entscheidende Haken:
Historische Vergleiche von Bewertungsniveaus zwischen 1929 und heute sind weitgehend sinnentleerte Übungen. Abgesehen davon, dass die Rechnungslegung der Unternehmen sich komplett gewandelt hat, ist heute die Wirtschaftsstruktur eine völlig andere. Dies zeigt sich auch darin, dass fast alle Indizes, auf die man sich beziehen kann, historisch betrachtet viel zu kurz existieren (der DAX wird z.B. erst seit 1988 berechnet).
Das KGV bezieht sich meist auf den Reingewinn der Unternehmen und ist damit entscheidend von Fragen der Abschreibungspolitik, der Besteuerung und anderer nicht-operativer Faktoren abhängig. Es macht aber nur Sinn die operative Stärke der Unternehmen als Grundlage zu nehmen. Dazu sind Maßstäbe wie der Freie-Cash-Flow oder Betriebsgewinne (die anhand verschiedener Faktoren bereinigt werden müssen) besser geeignet. Das landläufige KGV ist deswegen eine schlechte Maßzahl – im positiven wie im negativen.
Es macht grundsätzlich sehr wenig Sinn Marktniveaus (als z.B. einen Index) als Maßstab heranzuziehen. Während im Jahr 2000 tatsächlich viele Technologieaktien und Blue-Chips komplett überbewertet waren, gab es sehr viele Werte aus der zweiten oder dritten Reihe, die auch zur Zeit der größten Blase über vernünftige Bewertungen verfügten. Generalisierungen führen daher kaum weiter.
Und hier kommen wir zum entscheidenden Punkt: Graham und Dodd (wie auch ihr eifriger Schüler Buffett) waren immer Verfechter einer Betrachtung von Einzelunternehmen. Es ist schlichtweg unsinnig aggregierte Marktzahlen, Indizes o.ä. über Jahrzehnte miteinander vergleichen zu wollen und daraus dann allgemeine Verkaufs- oder Kaufempfehlungen abzuleiten. Daher liegt der Spiegel mit seinen impliziten Warnungen genauso falsch wie die Promotoren der Banken, die Anleger gerade jetzt zu neuen Käufen animieren. Beide Seiten versuchen sich an Market-Timing (also der Bestimmung des günstigsten Einstiegs- oder Ausstiegszeitpunktes) anhand allgemeiner Bewertungskriterien. Ein Unterfangen, das praktisch immer fruchtlos ist und Anleger lediglich davon abhält eine langfristige Strategie durchzuhalten. Investoren sind gut beraten, weder den immer euphorischen Optimisten der Banken noch den immer den Crash voraussehenden Pessimisten Beachtung zu schenken. Nur die kühle Analyse der Qualität einzelner Unternehmungen kann eine Antwort geben.
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