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Vorräte lügen nicht

Lagerhaltung

Ein Blick auf die Vorräte wirkt erhellend

Ein ausführlicher Blick auf die Vorräte lohnt sich bei jeder Bilanzanalyse, aber besonders bei produzierenden Unternehmen oder Unternehmen aus zyklischen Branchen. Die Schwankungen der Vorratshaltung und die Zusammensetzung der Vorräte kann dem analytischen Anleger einiges über die zukünftige Entwicklung des Unternehmens verraten. Unter Umständen sieht der Analytiker hier interessante Hinweise, die sich erst ein oder mehrere Quartale später in der Gewinn- und Verlustrechnung niederschlagen. Am Beispiel des Chemiekonzerns Covestro möchte ich heute beispielhaft zeigen, wie man die Vorratsbilanz unter die Lupe nehmen kann.

Covestro ist ein hochzyklischer Chemiekonzern, der vor allem Kunststoffe (z.B. Polyurethanschäume) an die Automobil, Holz-, Möbel und Bauindustrie liefert. Bei einem Blick in den Halbjahresbericht 2020 offenbart sich, dass die Vorräte laut Bilanz im Vergleich zum Vorjahr um über 5% gefallen sind und auch im Vergleich zum Jahresende 2019 stabil bleiben. Ein Blick auf die Forderungen aus Lieferungen und Leistungen zeigt, dass auch diese im Jahresvergleich gefallen waren und zwar signifikant um knapp 30%. In Anbetracht der derzeitigen coronabedingten Krise hätte man erwarten können, dass sich bei Covestro die nicht abverkaufte Ware stapelt oder dass zumindest die Debitoren stark ansteigen müssten, wenn die Ware bei den Kunden liegt, diese aber deutlich längere Zahlungsziele vereinbaren konnten. Als Investor konnte man erstmal positiv überrascht sein.

Ein Blick auf die Umsatzentwicklung zeigt, dass bei Covestro im ersten Halbjahr ein deutlicher Einbruch zu verzeichnen war: Um fast 23% hatte sich der Umsatz im Vergleich zum Vorjahr verringert. Wenn man Umsatz und Vorräte in Beziehung setzt erhält man die Umschlagshäufigkeit der Vorräte. Berechnet wird diese als

Umschlagshäufigkeit = Umsatz / Durchschnittsbestand an Vorräten

Für Covestro lautet die Kennzahl 2.98 für das erste Halbjahr 2019 und 2.29 für das erste Halbjahr 2020. Dies bedeutet also, dass die Vorräte etwas mehr als zweimal im Halbjahr umgesetzt wurden. Dies ist zwar eine deutliche Verlangsamung gegenüber dem Vergleichszeitraum, aber kein Grund zu starker Beunruhigung für ein Unternehmen wie Covestro, welches daran gewöhnt ist mit starken Zyklen zu leben.

Eine ähnliche Kennzahl liefern die Umsatzkosten wenn sie den Vorräten ins Verhältnis gesetzt werden. Diese Kennzahl zeigt noch etwas präziser, wie lange es dauert, die eingekauften Vorräte wieder auf dem Markt zu verkaufen. Folgende Formel ergibt sich dafür:

Umschlagshäufigkeit = Umsatzkosten / Durchschnittsbestand an Vorräten

Für das aktuelle Halbjahr liegt Covestro hier bei 2.11. Der Vergleichswert für das erste Halbjahr 2019 lag bei 2.27. Es ergibt sich also auch hier eine recht geringe Differenz, welche den insgesamt positiven Eindruck der Vorratslage unter den Krisenbedingungen bestätigt.

Wenn man 182.5 Tage (halbes Jahr) durch die Umschlaghäufigkeit der Vorräte teilt erhält man die Zeit in Tagen, die es dauert die Vorräte umzusetzen. In diesem Fall liegen wir also im ersten Halbjahr 2020 bei 86.5 Tagen im Vergleich zu 80.4 Tage im ersten Halbjahr 2019. Auch diese Kennzahl bestätigt nochmals den Eindruck, dass die Krise der Vorratshaltung von Covestro bisher nicht viel anhaben konnte.

Umschlagsdauer = Zeitperiode in Tagen / Umschlagshäufigkeit

Leider wird im Halbjahresbericht von Covestro die Zusammensetzung der Vorräte nicht ausgewiesen, welche uns noch einige interessante Zusatzinformationen geben kann. Ein Blick auf die Bilanz 2019 gibt hier interessante Anhaltspunkte: Unter der Fussnote 17 des Geschäftsberichtes listet Covestro auf, dass Ende 2019 rund 600 Mio. Euro an Roh-, Hilfs-, und Betriebsstoffen bevorratet waren, während Ende 2018 der Wert noch bei 660 Mio. lag. Gleichzeitig lagen die fertigen und unfertigen Erzeugnisse inkl. Handelswaren bei rund 1323 Mio. Euro, während sie Ende 2018 bei 1551 Mio. Euro lagen. Die Zahlen sind wenig auffällig, da auch der Umsatz im Geschäftsjahr 2019 um rund 15% rückgängig war. Die Vorräte gehen mit rund 13% etwa im gleichen Umfang zurück wie der Umsatz. Die Halbfertig- und Fertigprodukte weisen sogar mit knapp 15% einen etwas stärkeren Rückgang auf als die Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe. Auch dies ist ein Hinweis, dass sich in einem zyklischen Abschwung bei Covestro keine grossen Halden an nicht abverkauften Produkten ansammeln. Ein überproportionaler Anstieg der Halb- und Fertigprodukte deutet auf wirtschaftliche Schwierigkeiten hin, während ein relativ starker Anstieg bei den Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffen eher darauf hinweist, dass das Unternehmen einen grösseren Auftragsstau abarbeiten muss und dafür entsprechend bei den eigenen Lieferanten eingekauft hat. Ein weiterer, wesentlicher Punkt ist diesem Zusammenhang ist, dass eine zu geringe Lagerhaltung an Rohmaterialien leicht zur Unterbrechung der Produktion führen kann und insofern ein gefährliches Spiel ist. Man denke nur an das dieses Frühjahr, wo viele Produzenten von den Lieferungen aus Asien abgeschnitten waren und in grosse Schwierigkeiten gerieten. Insofern sollte bei dieser Vorratsposition gerade auch Schwankungen nach unten kritisch verfolgt werden.

Grundsätzlich werden die Vorräte nach IFRS in die Kategorien Handelswaren (merchandise), Hilfs- und Betriebsstoffe (production supplies), Rohstoffe (materials), unfertige Erzeugnisse/Leistungen (work in progress) und Fertigerzeugnisse (finished goods) unterteilt. Diese Gliederung kann aber von Fall zu angepasst und leicht verändert werden. Explizit ausgenommen von den Vorräten sind alle Finanzinstrumente, sowie Betriebsstoffe, die nicht der Produktion zuzuordnen sind.

In der Fussnote zur Bilanzposition Vorräte des Covestro-Geschäftsberichts stösst man auch auf folgende Anmerkung :

“Im Geschäftsjahr 2019 wurden Wertberichtigungen auf Vorräte in Höhe von 32 Mio. € (Vorjahr 18 Mio. €) sowie Wertaufholungen von 9 Mio. € (Vorjahr 3 Mio. €) ergebniswirksam in den Herstellungskosten erfasst.”

Es zeigt sich also ein leicht höheres Niveau an Wertberichtigungen als noch vor einem Jahr, welche die eingetrübten konjunkturellen Aussichten reflektiert. Doch was ist unter Wertberichtigungen genau zu verstehen? Vorräte sind laut IFRS prinzipiell zu den Anschaffungskosten oder alternativ Herstellungskosten zu bewerten. Eine Ausnahme besteht nur, wenn der Veräusserungswert unter diesen Kosten liegt. Sofern letzteres der Fall ist, muss zwingend eine ausserplanmässige Abschreibung auf diesen (niederigeren) Wert erfolgen. Umgekehrt kann es eine Wertaufholung (Zuschreibung) geben, sollte etwa der Marktwert der Vorräte wieder ansteigen. Maximal kann diese Wertaufholung wieder auf die ursprünglichen Herstellungskosten erfolgen. Die Ab- und Zuschreibungen auf die Vorräte sind daher tatsächlich ein wichtiger Indikator für mögliche Probleme auf den Absatzmärkten.

Im Zusammenhang mit den Vorräten sollte der Anleger aber auch immer einen Blick auf die Debitoren oder “Forderungen aus Lieferungen und Leistungen” werfen. Denn es ist natürlich denkbar, und gar nicht einmal so unüblich, dass ein Unternehmen seinen Lagerbestand einfach den Kunden “aufs Auge drückt” und damit nominell die eigene Vorratshaltung senkt und den Aussenumsatz erhöht. Solche Tricks erkennt man häufig daran, dass die Aussenstände an Forderungen ansteigen genauso wie die Zahlungsfristen der Kunden. Auch hier lässt sich einfach die Umschlagshäufigkeit berechnen:

Umschlagshäufigkeit der Forderungen = Umsatz / durchschnittlicher Forderungsbestand

Für das erste Halbjahr 2020 bei Covestro ergibt sich dabei ein Wert von 3.44. Im Vergleich dazu lag der Wert in der Vorjahresperiode bei 3.56. Insgesamt also eine geringe Abweichung. Man kann dann auch noch die Tage berechnen, bis Forderungen in Cash konvertiert werden, im Englischen auch “Days Sales Outstanding” (DSO). Die Formel lautet:

DSO = (Durchschnittlicher Forderungsbestand x 365 Tage) / Umsatz

Hier ergibt sich für das erste Halbjahr 2020 ein Wert von 53.1 Tagen. Wobei zu beachten ist, dass wir hier mit 182.5 Tagen rechnen müssen statt der 365, da es sich ja um die Halbjahresperiode handelt. Der Vergleichswert aus dem Vorjahr liegt bei 51.3. Es wird also deutlich, dass es Covestro in der Coronakrise sogar gelang, bei den Kunden die Aussenstände etwas schneller einzutreiben als im Vorjahr. Sicherlich eine gute Vorgehensweise angesichts einer kaum berechenbaren Krise.

Für Covestro können wir also ein positives Fazit ziehen: Die Krise der ersten Jahreshälfte scheint wenig Spuren hinterlassen zu haben. Zwar ist der Umsatz um fast ein Viertel gegenüber der Vorjahresperiode eingebrochen. Doch weder ist die Vorratshaltung explodiert noch haben sich die Forderungen gegenüber Kunden erhöht. Tatsächlich konnte Covestro die Konversion von Forderungen in Cash sogar etwas beschleunigen. All dies spricht dafür, dass Covestro über ein sehr flexibles und anpassungsfähiges Geschäftsmodell verfügt, welches mit den typischen Zyklen in dieser Branche sehr gut umgehen kann.

Covestro-Aktie 2020

Der Aktienkurs von Covestro reflektiert diese Einsicht der Investoren. Nach einem scharfen Einbruch ab Ende Februar bis Mitte März zeigt der Kurs eine recht stetige Erholung.

Take-aways:

  1. Vorräte sind eine Bilanzposition, die Aufschlüsse über die wahre Lage des Geschäftes zulassen, welche unter Umständen aus anderen Positionen wie Umsatz oder Gewinn (noch) nicht ersichtlich sind. Dies gilt insbesondere für Produktionsbetriebe und zyklische Branchen.

  2. Ein überproportionaler Anstieg der Vorräte im Verhältnis zum Umsatz deutet auf mögliche Absatzschwierigkeiten hin.

  3. Dabei ist besonders ein Anwachsen des Vorrats an Halbfertig- und Fertigprodukten bedenklich, während der Anstieg bei den Roh- und Hilfsstoffen auf ein zu erwartendes Anwachsen der Kundennachfrage hindeutet.

  4. Neben den Vorräten sollte der Investor auch einen Blick auf die Forderungen aus Lieferungen und Leistungen werfen. Das Anwachsen dieser Bilanzposition kann darauf hindeuten, dass Vorräte beim Kunden “geparkt” werden.

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